Willkommen zu einem frischen Artikel in der Serie „Ein kleiner Programmierer versucht die Relativitätstheorie zu verstehen“.
Hier wird versucht, anhand einiger einfacher Beispiele den Ideen der Relativitätsheorie auf die Schliche zu kommen.
Im ersten Artikel dieses Fünfer-Blocks (siehe „Zurück an den Start“) hatten wir die LT (Lorentz-Transformation) für Ereignisse angeschrieben. Dabei hatten wir akzeptiert, dass Zeit keine absolute (invariante) Größe ist.
Beim letzten Mal (siehe „Länge ist relativ“) haben wir gesehen, dass auch Längen keine absoluten Größen darstellen, sondern ebenfalls vom Bewegungszustand des Beobachters abhängen.
Na gut, da ja eine Geschwindigkeit sich aus „Länge pro Zeit“ ergibt, ist es naheliegend, dass sich bei der Transformation von Geschwindigkeiten ebenfalls etwas ändern wird, wenn man relativistisch an die Sache herangeht.
Wir definieren also wieder ein ungestrichenes („ruhendes“) Bezugssystem und ein gestrichenes („bewegtes“) Bezugssystem, der Stab bewege sich diesmal aber relativ zu beiden Bezugssystemen.
Genauer definieren wir:
- Das gestrichene Bezugssystem bewege sich wieder relativ zum ungestrichenen mit der konstanten Geschwindigkeit v.
- Der Stab bewege sich relativ zum ungestrichenen Bezugssystem mit der Geschwindigkeit w≠v.
Wir beginnen wieder mit der – Newton’schen – Zeichnung der Situation, wohl wissend, dass wir dadurch unser Gehirn auf falsche Bahnen lenken könnten, aber in der Hoffnung, die Sache anschaulicher zu gestalten.
Vorerst wollen wir die Ergebnisse, die wir bereits gesammelt haben, nützen, um unsere Erwartungen zu formulieren.
Dazu führen wir ein drittes, zweigestrichenes, Bezugssystem ein, welches sich mit dem Stab mitbewegt.
Wir wissen, dass sich das gestrichene Bezugssystem mit der Geschwindigkeit v relativ zum ungestrichenen bewegt, auch wissen wir, dass sich der Stab mit Geschwindigkeit w relativ zum ungestrichenen bewegt, aber – was uns zur Beantwortung der Frage führen soll – bewegt sich der Stab relativ zum gestrichenen Bezugssystem tatsächlich mit der Geschwindigkeit w’=w–v, wie wir aufgrund der Newton’schen Mechanik erwarten würden?
Um das zu erforschen, transformieren wir wieder die Weltlinien der beiden Endpunkte des Stabes. Diese Punkte P und Q bewegen sich dabei mit der Geschwindigkeit w relativ zum „ruhenden“ Bezugssystem:
Nun gut, um die Weltlinien der Punkte P und Q zu transformieren, verwenden wir wieder die Lorentz-Transformation
und setzen die Weltlinie des Punktes Q ein (Q ist der allgemeinere Fall, P folgt aus Q durch das Setzen von L gleich 0):
Die zweite Gleichung in die erste eingesetzt, und nach x‘ aufgelöst, ergibt in weiterer Folge x'(t‘).
Zuerst eingesetzt
dann alle Summanden mit x‘ auf die linke Seite gebracht
vereinfacht mit
zu
und weiter
also konkret für die beiden Weltlinien
Wir sehen also, dass sich die Geschwindigkeiten der Bezugssysteme NICHT einfach subtrahieren, wie in der Newton’schen Mechanik, sondern dass sich die Relativgeschwindigkeit der beiden Bezugssysteme, die sich mit v bzw. w bewegen, wie folgt ergibt (Geschwindigkeit des zweigestrichenen Systems aus der Sicht des gestrichenen Systems (v)):
Das ist auch einleuchtend: angenommen, ein Stab bewege sich (fast) mit Lichtgeschwindigkeit nach rechts, ein anderer (fast) mit Lichtgeschwindigkeit nach links, dann können sich die beiden Stäbe relativ zueinander nicht mit doppelter Lichtgeschwindigkeit bewegen.
Da sowohl w als auch v betragsmäßig immer kleiner oder gleich der Lichtgeschwindigkeit sein müssen, ist der „Korrekturfaktor“ immer im Bereich zwischen 0 und 2. Wenn w und v dasselbe Vorzeichen haben (wenn sich die Bezugssysteme in dieselbe Richtung bewegen), dann ist der Faktor kleiner 1, die „relativistische Relativgeschwindigkeit“ ist also größer als die „Newton’sche Relativgeschwindigkeit“. Wenn die Geschwindigkeiten unterschiedliches Vorzeichen haben, dann ist der Faktor größer 1, die „relativistische Relativgeschwindigkeit“ ist also kleiner als die Newton’sche.
Jetzt könnte man sich eine Zwischenfrage stellen.
Denn so einleuchtend der Zusammenhang
auch ist, so unsymmetrisch scheint dieses Ergebnis zu sein.
Oder – anders formuliert – wären wir zum selben Ergebnis gekommen, wenn wir entweder das gestrichene oder das zweigestrichene Bezugssystem als „ruhendes“ angesetzt hätten und sodann die Relativgeschwindigkeit der anderen beiden berechnet hätten?
Um diese Fragestellung zu beleuchten, überlegen wir uns einmal, welche Fälle es gibt. Dazu machen wir eine Zeichung der Bezugssysteme B, B‘ und B“ sowie ihrer Relativgeschwindigkeiten:
Wenn wir drei Bezugssysteme haben, dann kann sich also jedes der drei Bezugssysteme relativ zu jedem mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegen, im ersten Ansatz haben wir also 9 Relativgeschwindigkeiten und damit 9 Freiheitsgrade:
u…………………Geschwindigkeit von B, relativ zu B
u’………………..Geschwindigkeit von B, relativ zu B‘
u“……………….Geschwindigkeit von B, relativ zu B“
v…………………Geschwindigkeit von B‘, relativ zu B
v’………………..Geschwindigkeit von B‘, relativ zu B‘
v“……………….Geschwindigkeit von B‘, relativ zu B“
w………………..Geschwindigkeit von B“, relativ zu B
w’……………….Geschwindigkeit von B“, relativ zu B‘
w“………………Geschwindigkeit von B“, relativ zu B“
Da man aber aus physikalischer Vernunft und aufgrund der Ergebnisse des zweiten Artikels (siehe „Manchmal sind offensichtliche Dinge gar nicht so offensichtlich“) bereits einige Gleichungen aufstellen kann, nämlich
- ein Bezugssystem bewegt sich relativ zu sich selbst immer mit der Geschwindigkeit 0 und
- wenn sich Bezugssystem B1 relativ zu B2 mit der Geschwindigkeit v bewegt, dann bewegt sich B2 relativ zu B1 mit der Geschwindigkeit -v,
so bleiben 3 Freiheitsgrade.
Weiters haben wir die Beziehung zwischen w‘, v und w bereits hergeleitet, nämlich
Diese Gleichung bezieht sich auf das linke Dreieck in Abbildung (8.12).
sodass eben nur mehr zwei Freiheitsgrade offen sind. Damit müssen wir jetzt also beweisen, dass unter all diesen Voraussetzungen die folgenden beiden Annahmen wahr sind:
diese Gleichung bezieht sich auf das mittlere Dreieck in Abbildung (8.12), und
diese Gleichung bezieht sich auf das rechte Dreieck in Abbildung (8.12).
Diese Annahmen ergeben sich, indem man für die bereits hergeleitete Formel w‘ = w'(w,v) den „Sichtwinkel ändert“ und die Relativgeschwindigkeiten aus Sicht der beiden anderen Fälle einsetzt (reiner Analogieschluß).
Beweis für Annahme 1:
Die Beziehung u’=-v in Annahme 1 eingesetzt
sodann aufgelöst nach w‘ mit
und
ergibt den Beweis:
Beweis für Annahme 2:
Die Beziehungen u“=-w und w’=-v“ in Annahme 2 eingesetzt
sodann aufgelöst nach w‘ mit
und
ergibt wieder die wahre Aussage:
Die Berechnung der Relativgeschwindigkeit ist also mit der Lorentz-Transformation eine runde Sache, die aus der Sicht aller Bezugssysteme immer wieder denselben Charakter hat. Die Zwischenfrage ist hiermit also beantwortet
Meint
Euer Christoph
[…] Relativgeschwindigkeiten (2012-03-24) […]